11.12.2011 Tianjin und Qingdao - auf der Suche nach kolonialer Geschichte

Aus RTW

Auf der Suche nach der chinesischen Geschichte um 1900 sind wir zu den beiden Millionenstädten Tianjin und Qingdao gefahren.

In Tianjin fand um den Jahreswechsel 1900 der Boxeraufstand statt, politisch korrekter: der Boxerkrieg als chinesische Antwort auf die Konzessionszeit zwischen 1895 bis 1900. Tianjin war schon immer eine bedeutende Handelsstadt, da sie im Landesinneren liegt und gleichzeitig einen direkten Zugang zum Meer hat, zudem ist Beijing nicht weit entfernt. Diesen Wirtschaftsstandort nutzten auch die Engländer, Franzosen, Japaner, Deutsche, Italiener, Belgier und Österreicher. Jedes Land agierte als eigenständige Zone in Tianjin (aber auch in anderen Städten), baute Wohn- und Administrationshäuser im heimischen Stil und hatte ein eigenes Gefängnis und Krankenhaus, sowie eigene Schulen. Mit dem westlichen Einfluss auf die Politik und Wirtschaft unzufrieden, formierte sich eine Bewegung, die sich "Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie" nannte. Diese fand bald Unterstützung durch die Kaiserin Cixi, so dass es immer mehr Anschläge auf ausländischen Vertreter und christliche Chinesen gab. Als es zur Ermordung des Gesandten der deutschen Reichsregierung, Baron Clemens von Ketteler, kam, schlossen sich die Allierten zu einen militärischen Angriff auf Beijing von Tianjin aus zusammen. Nachdem die Allierten zu nächst unterlagen und auf halben Weg nach Peking sich nach Tianjin zurückziehen mussten, unterlag Peking am 14. August 1900. Das Ende des Krieges, der auf Grund seiner unangebrachten Grausamkeit gegen Zivilisten in den Heimatländern der Allierten kritisiert wurde (insbesondere auch die Hunnenrede Kaiser Wilhelms II, "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht."), besiegelte der Boxerprotokoll, welches die Rechte der ausländischen Gesandten sicherte und die Chinesen zu hohen Reparationszahlungen verpflichtete.

Aus der Konzessionszeit findet man noch heute, gute 110 Jahre später, einige Häuser im europäischen Stil (maximal vier Etagen, Backstein, rote Dächer und Stuck). Nahezu komplett erhalten ist das italienische Viertel, in dem sich heute neben etlichen Pizzaläden (wir hörten das Gerücht, dass die Italiener die Nudel aus China mitbrachten und dann im Heimatland verunstalteten) auch eine bayrische Bierstube befindet, sowie ein kleiner Park mit Denkmälern europäischer Größen der Literatur und Musik, wie Bach und Beethoven. Drumherum zeigt sich China, wie es moderner in unseren Augen fast nicht mehr geht: Stahl-Glas-Hochhäuserkomplexe reihen sich aneinander, unterbrochen durch riesige Shoppingzentren und breite, vierspurige Straßen, auf denen Wagen der oberen Preiskategorien fahren. Dazwischen suchten wir fast vergeblich nach kleinen Garküchen für ein preiswertes Mittagessen (McDonalds und KFC gelten hier nicht, aber man findet sie an jeder Ecke) und nach den sonst so häufigen und oft sehr sauberen öffentlichen Toiletten. Unser Mittagessen fanden wir dann erst ein Stück abseits der Prachtstraßen in Häuserzeilen älterer Baureihen. Noch weiter ab vom Schuss fanden wir dann doch das chinesische Straßenbild mit kleinen Häuschen und Straßenverkäufern, wie wir es von "kleinen" Städten mit "nur" drei Millionen Einwohnern kennen.

Abgesehen von den alten und Häusern im europäischen Stil kann man einen Trommelturm (Drum Tower) besichtigen, der Teil der alten Stadtmauer war, sowie eine rekonstruierte Straße in chinesischer Bauart mit Souvenir- und Kunsthändlern und natürlich eine Fressgasse, in der man sich wohl aber eher arm als satt essen kann. Geschichtliches, ein Museum oder irgendwas zur Zeit des Boxerskriegers, haben wir vergeblich gesucht, sicher auch, weil es wenig ruhmreich für die Chinesen ausging. Dahingegen präsentiert der Shi Family Courtyard, in einem Vorort von Tianjin, den Reichtum einer aufstrebenden Familie um 1900. Für 27 RMB kann man kleine Häuschen und Höfe besichtigen, in denen chinesische Kunst und einige Möbelstücke gezeigt werden - sonst leere Räume werden, etwas unpassend, zur Glorifizierung jüngerer Geschichte und Politik, sowie der Listung einflussreicher Besucher genutzt.

Was den ganzen Aufenthalt in Tianjin jedoch unvergleichbar machte, war das chinesische Paar, welches uns über Couchsurfing bei sich schliefen ließ. Uns beeindruckte nicht nur das Apartment im 16. Stock eines Luxushochhauskomplexes, sondern, und das ganz besonders, die unglaubliche Gastfreundlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber uns und unserer Reise. An zwei Abenden zeigten sie uns die lokalen Spezialitäten und wir ließen sie dafür, hust, bei einer Runde Tischtennis im Hauseigenen Fitnesscenter gewinnen (obwohl sie unsere Spielfähigkeiten hoch lobten).

Leider wiederholte sich diese gute Couchsurfing-Erfahrung am Folgetag in Qingdao nicht. Zwar übertraf das Apartment noch mehr unsere gewohnten Wohnverhältnisse, wir hatten jedoch die Besenkammer mit einem kleinen, aber raumfüllenden Bett und ohne Fenster. Auch die Freundlichkeit der Gastgeberin hielt sich stark in Grenzen. Weder zeigte sie Interesse an unserer Reise noch konnte sie uns Tips für die Stadtbesichtigung und Umgebung geben, oder bei der Wahl des Stadtbusses helfen: Ist sie, nach eigenem Bekunden, schon seit Jahren nicht gefahren - macht auch Sinn mit einem VW Touareg in der Tiefgarage. Dafür bekamen wir richtigen Kaffee und einen unbezahlbaren Einblick in die Kindheit eines chinesischen Einzelkindes. Die Tochter, mit eigenem Chauffeur, der Alleinerziehenden hatte selbst am Samstag einen straffen Zeitplan: 8:00 Mathenachhilfe, 10:00 Zeichnen, 14:30 Musikinstrument. Ansonsten standen Hausaufgaben und Englisch auf dem Plan. Die Kleine soll nach der Grundschule auf ein englisches Internat um dort die westliche Ausbildung zu "genießen". Allein ein Abendessen beim nächtlichen, "illegalen" (da die Köche keine Verkaufsgenehmigung haben) Grillspießessen ("Night Barbecue), gab uns ein wenig Insider wissen - warum die gute Frau jedoch an Couchsurfing teilnimmt, soll uns ein Rätsel bleiben.

Ansonsten gab es auch Qingdao, wo 2008 die Segelwettkämpfe der Olympischen Spiele sattfanden, viel Stahl, Glas und Marmor. Lediglich direkt an der sechs Kilometer langen Strandpromenade und in der Altstadt gab es ein paar kleine Häuser im deutschen Stil. 1898 wurden in Qingdao zwei Missionare umgebracht, woraufhin Deutschland als Wiedergutmachung den Ort für 99 Jahre zugesprochen bekam. Entsprechend siedelten sich viele Deutsche dort an und bauten den Hafen für den Handel Deutschlands mit Japan und Korea aus. Doch bereits im ersten Weltkrieg machten die Japaner den Deutschen den Ort streitig und begünstig durch den Versailler Vertrag verlor Deutschland das Vorrecht auf Qingdao an die Japaner. Heute kann man aus der Zeit noch das Gefängnis und das Gouverneurshaus besichtigen, sowie das Tsingtao Bier trinken, welches noch immer in der vormals deutschen Brauerei erfolgreich gebraut wird. Trotz des ganzen Glanzes, konnte die Stadt uns nicht fesseln. Zwar war der Spaziergang entlang der Küste vom Olympischen Hafen zur Altstadt mit einigen Blickfängen gespickt, aber auch mit etlichen Straßenhändlern (die einem ein "Fuck you" hinterher rufen, wenn man den Handel freundlich ablehnt) und auch Bettlern. Einem gaben wir anstatt eines Yuans eine Süßigkeit, die er scheinbar etwas überrascht seiner ebenfalls bettelnden Frau vorzeigte, die daraufhin in einen recht unfreundlichen Wortschwall ausbrach, so dass er die Süßigkeit einfach zu Boden fallen ließ (es sei kurz erwähnt, dass das Petras absoluten Lieblingssüßigkeiten, gepresste Frucht des Weißdorns, sind). Das ganze wirkt sich natürlich nicht besonders positiv auf die Erfolge kommender Bettler aus. Am zweiten Tag in QIngdao wollten wir eigentlich uns den Lao Shan (ein kleines Bergmassiv im Osten der Stadt) anschauen. Jedoch mussten wir auf gut Glück einen Bus in die Richtung nehmen, da wir keine eindeutigen Informationen im Internet gefunden hatten. Zudem sollte der Eintritt zu diesem buddhistischen Tempel, je nach Startort der Besteigung, zwischen 70 und 100 RMB kosten, was es uns angesichts des trüben Wetters nicht wert war. Daher fuhren wir mit einem Stadtbus soweit in Richtung Osten, wie möglich und spazierten dann ein wenig durch die Vororte QIngdaos und am Meer entlang, bevor wir den Bus zurück nahmen.

Hat man viel Zeit und möchte sich Städte anschauen, die nicht von Touristen überlaufen sind, können Tianjin und Qingdao durchaus auf der Liste stehen. Insbesondere im Sommer soll QIngdao mit seinen langen Sandstränden ein lohnendes Ziel sein, gilt es doch als einer der besten Badeorten (7 Millionen Einwohner!) Chinas. Aber beeindruckende Sehenswürdigkeiten können wir nicht hier auflisten oder empfehlen, was angesichts der Geschichte ein wenig schade ist.

Zwischen Tianjin und QIngdao sind wir übrigens mit dem Schnellzug Chinas gefahren. Ganz ungewohnt und komfortabel saßen wir, jeder hatte einen Platz für sich, bei Spitzengeschwindigkeiten von 250 km / h und sausten durch die graue Landschaft.

Fakten

  • Stadtverkehr Tianjin
    • Preis der Busse abhängig von der maximalen Reichweite der Linie; zwischen 1 und 3 RMB
  • Shi Family Courtyard
    • in Yàngliùqing, westlich von Tianjin (27 RMB), 278 Räume, größtes Folktheater Chinas für Gesang
39.1236117.1981

39.1236, 117.1981


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